Als ich mit dem Buch fertig war, viel mir seltsamerweise ein Wort von John Burnside ein: „Ich sah den Teufel in einer Tasse Fertigsuppe.“. Der Schlaf in den Uhren hatte dazu geführt, das ich wie die Hündin Laika in ihrem Sputnik 2 durch Treva flog und den Endgegner suchte. Seit Jahren lese ich nur noch sehr wenig zeitgenössische Literatur. Wie Heiner Müller sagte, das ihn Demokratie langweilte, so ist das bei mir mit der Gegenwartsliteratur. Viel Schund, zu politisch, zu aktivistisch und substanzlos. Es ist gruselig was da über die Tische des Buchhandels gereicht wird. Uwe Tellkamp ist anders, er ist ein mutiger Autor. Es ist zu vermuten, das die überwiegende Mehrheit der Leser nach wenigen Seiten die Segel streichen. Wer nicht ernsthaft fokussiert bleibt, der will nicht lesen. Das Buch ist vergleichbar mit einer Straßenschlägerei. Es gibt keinen Plan, aber wer sich nicht stellt wird verlieren. Aber jene, die sich eingraben und Welle für Welle überstehen, werden mit dem Genuss großartiger Literatur belohnt. Tellkamp ist ein erhabener Stilist, seine Sprache hat eine kybernetische Eleganz, man atmet und staunt. Diese Sprache bannte und verdammte mich zu wochenlanger Fertigsuppe. Bis ich das Labyrinth durchschritten hatte. Als interessierter Leser kann man sich keine Vorstellungen davon machen, wie schwierig es sein muss, zeitgenössische Themen in diese sprachlichen Weiten zu katapultieren. Die meisten werden aussteigen, konditioniert durch die lauwarme Häppchenkultur unserer Zeit. Literatur ist in Verruf geraten, vor allem solche, die als Großversuch der Deutung von Geschichte angelegt ist. So erging es den monströsen Großstadtromanen, der Lagerliteratur und vielen phantastischen Werken. Die Mühen der Ebene gehen heute nur noch wenige Leser, kurzweilig soll die Reise sein. Tellkamps Text ist ein solcher Großversuch, der sich unmöglich erklären lässt, so wie sich Ulysses von James Joyce, Manhattan Transfer von John Dos Passos nicht erklären lassen. Literatur als Zeitvertreib ist etwas für Denkfaule. Solche Stimmen behaupten auch, das es sich nicht lohnen würde Dostojewski zu lesen, bloß weil er zeilenweise beschreibt wie sich jemand den Staub von der Hutkrempe streift.
Ist der Leser aber nicht nur geneigt, sondern weiß um die Hintergründe der Zeitdiagnostik darin, dann wird die Lektüre zu einem Ereignis, das sonst nur der Musik vorbehalten bleibt. Oberflächlich betrachtet kann man den Text als zeitkritischen Roman abtun, die historischen Abläufe und handelnden Personen sind schnell erkannt. Die literarische Größe dieses Textes bleibt dabei jedoch auf der Strecke. Dieses tote Pferd peitschten viele Kritiker vor allem bundesrepublikanischer Herkunft, weil sie sich an der politischen Person Uwe Tellkamps störten, der mit offenem Visier seine legitimen Positionen vertrat. Dazu ist alles gesagt. Diese Form der üblen Nachrede scheiterte, weil Der Schlaf in den Uhren in seiner Sprache und Konzeption für sich steht. Die kolossale Virtuosität dieser Literatur übersteigt die profanen Niederungen der bestehenden Bekenntnisprosa des Zeitgeistes. Tellkamps Sprachkosmos weckt Erinnerungen an andere große Unternehmungen dieser Art. Es sind Assoziationen zu den Sprachwelten anderer Autoren. Beim Lesen dieser eigentümlichen Sprache kamen mir unzählige Gedanken zu anderen Werken in den Sinn. Da wären die Sprache Reinhard Jirgls in seinem Buch Nichts von euch auf Erden, ein ebenso kühner Wurf. Es schiene so, als würde Tellkamp mit seinen Sprachschöpfungen die Erinnerungen an alle schlummernden Sätze von Literatur im Gehirn des Lesers zu neuem Leben zu erwecken. Erinnerungen, die von Leser zu Leser variieren. Ich erinnerte mich an Heliopolis von Ernst Jünger, an Georg Orwells 1984, Brave New World von Aldous Huxley, an Jewgeni Samjatins Wir, an Geschichten von Ambrose Bierce und Celines Reise ans Ende der Nacht. Selbst Baron Wladimir Harkonnen aus Frank Herberts Der Wüstenplanet spukte vorbei. Wenn Tellkamp Worte wie Eisengallustinte oder Zeitarbeiterkollektiv benutzt, reagiert das Gehirn drüsig und schleudert Erinnerungstexturen wie knisterndes Popcorn. Hier entsteht, was der Lyriker Allen Ginsberg in einem Gedicht einmal die „Welten aus Bakterien“ nannte. Treva ist der Kosmos und hat viele Ableger, wo alle zum Lichte drängen und doch in der Dunkelheit leben. Das sind die Momente wo das lesende Säugetier innehält und das in der Welt sein für eine Nanosekunde ahnt. Alles was Tellkamp beschreibt ist in unseren Zellen und findet jeden Sekunde aufs Neue statt. Das ist es was Literatur leisten kann, deshalb verdanken wir ihr alles. Tellkamps Buch nachzuerzählen, rational in erkenntnistheoretische Kategorien einzuordnen, wird immer radikal scheitern. Sprache in dieser Versuchsanordnung lässt sich weder satteln noch bändigen. Der Weg nach Eleusis ist steinig, im Fall Der Schlaf in den Uhren hat es sich gelohnt. (fk)
Der Schlaf in den Uhren, Uwe Tellkamp
Suhrkamp Verlag, 904 Seiten
32 Euro